Im Rhythmus der Schritte – Ein Tagebuch vom Jakobsweg

 Im Rhythmus der Schritte – Ein Tagebuch vom Jakobsweg


Was bringt einen Menschen dazu, über 800 Kilometer zu Fuß durch Spanien zu gehen? Diese Frage wurde mir oft gestellt – vor dem Aufbruch, unterwegs, und besonders danach. Die einfache Antwort wäre: Ich wusste es selbst nicht genau.

Dieses Tagebuch ist kein Reisebericht im klassischen Sinn. Es ist keine Anleitung, kein Erfahrungsratgeber, keine romantisierte Erzählung von Sonnenaufgängen über steinernen Wegen. Es ist eine Sammlung von Momenten, Gedanken und Begegnungen – roh, ungeschönt, manchmal widersprüchlich.

Der Jakobsweg hat in den letzten Jahren viele Bedeutungen bekommen: spirituelle Suche, sportliche Herausforderung, Flucht vor dem Alltag, eine Pause vom Lärm. Für mich war er all das – und doch nichts davon ganz.

Ich habe dieses Tagebuch geschrieben, um nicht zu vergessen, was es heißt, einfach nur zu gehen. Ohne Ziel, aber mit Richtung. Ohne Antworten, aber mit Fragen. Vielleicht finden Sie sich in dem einen oder anderen Tag wieder. Vielleicht auch nicht. Beides ist in Ordnung.

Denn der Weg ist nicht besonders. Er ist nur ehrlich.


Tag 1 – Sankt-Jean-Pied-de-Port: Der Anfang schmeckt nach Zweifel

Ich stehe am Ortsausgang von Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Rucksack drückt, meine Schuhe sind neu, mein Kopf ist voll. Allein die Tatsache, dass ich mich auf diesen Weg begeben habe, erscheint mir absurd. Andere bauen Häuser, ich baue Blasen.

Ein Mann aus Dänemark mit wettergegerbtem Gesicht reicht mir wortlos einen Kaffee. Er hat seine Familie zu Hause gelassen, „nur drei Wochen“, sagt er. Ich frage mich, ob ich länger durchhalte. Nicht körperlich – seelisch. Denn was mir niemand sagte: Der Weg beginnt nicht unter den Füßen, sondern im Inneren. Und dort ist es laut.


Tag 3 – Roncevaux: Der Körper redet mit

Die Pyrenäen haben gesprochen. Jedes Kniegelenk, jeder Muskel schreit. Am Morgen habe ich mich kaum aus dem Bett gerollt. Die Hüttenwirtin lächelt mitfühlend. Sie kennt diesen Blick. Sie kennt diese Fragen. Warum tue ich mir das an? Warum hier, warum jetzt?

Ich habe gelernt, dass die Stille der Natur keine Pause ist. Sie ist eine Konfrontation. Mit jedem Schritt löst sich etwas in mir: ein Gedanke, eine Erinnerung, ein alter Streit. Nicht friedlich, sondern wie ein Sturm im Wasserglas. Und doch: Am Abend sitze ich mit Fremden am Tisch, wir essen Brot, teilen Chorizo, Queso und Jamon. Es ist das ehrlichste Gespräch seit Jahren.


Tag 6 – Pamplona: Wie im Büro. Nur ohne Kaffeeautomat

Nun bin ich im Baskenland. Hier in Pamplona rollen Skateboardfahrer durch die Altstadt, während ich mit schmerzenden Füßen auf dem Bordstein hocke. Ich beobachte die Menschen – und sehe mich. Gehetzt, beschäftigt, abgelenkt. Die Stadt vibriert, doch ich spüre nichts außer meinen Rücken. Das ist also Pamplona, die Stadt von Hemingway.

Der Jakobsweg ist wie ein schlechter Montagmorgen. Nur länger. Er bringt einen dazu, den Kalender des Alltags neu zu lesen. Termine, Deadlines, soziale Pflichten – alles schrumpft zu Nebensächlichkeiten. Ich laufe, esse, schlafe. Und doch: Ich lebe bewusster als je zuvor. Der Kaffee schmeckt wie ein kleines Wunder. Ein Lächeln auf der Straße fühlt sich an wie eine warme Dusche.


Tag 9 – Estella: Staubige Einsichten

Es ist heiß. Die Sonne brennt auf das staubige Land, die Hitze steigt vom Boden auf. Ich frage mich, ob ich heute sprechen will. Die Antwort: nein. Ich laufe allein. Keine Gespräche, kein Witzeln über Blasen oder Schlafsäle.

Ich begegne einer Frau aus Südkorea. Wir nicken uns zu. Keine Worte. Aber im gleichen Rhythmus laufen wir weiter. Stundenlang. In völliger Stille. Ich hätte nie gedacht, dass ein Schweigen so verbindend sein kann.

Am Abend sagt sie leise: „Ich bin zum ersten Mal ich selbst.“ Ich nicke. Ich auch.


Tag 13 – Burgos: Moderne trifft Mönchstum

Die Kathedrale von Burgos steht wie ein steinernes Gedicht in der Stadt. Touristen schieben sich durch die Gassen, ich kauere auf der Treppe. Mein T-Shirt klebt, meine Gedanken auch.

Hier, zwischen gotischer Pracht und Tapasbars, wird mir klar: Der Weg ist keine Flucht. Er ist eine Hinwendung. Zu was, weiß ich noch nicht. Aber ich habe aufgehört, es zu ergründen. Nicht aus Resignation. Aus Vertrauen.

Ich telefoniere mit meiner Schwester. Sie sagt, ich klänge anders. Leiser. Ich sage: Vielleicht höre ich nur zum ersten Mal richtig zu.
Burgos ist faszinierend. Auch das Essen ist prima: Zwei Spiegeleier mit hausgemachten Pommes und Morcilla reichen um glücklich zu sein.


Tag 16 – Meseta: Die große Leere

Die Meseta. Dieses Nichts zwischen den Orten, zwischen Himmel und Erde. Kein Schatten. Kein Lärm. Nur der Wind, das eigene Atmen, das Knirschen unter den Schuhen.

Hier wird jeder Gedanke zu laut. Ich laufe mit mir selbst – und das ist unbequem. Der Weg wird zur Metapher: Es geht weiter, obwohl ich keine Lust habe. Ich bin müde, aber ich höre nicht auf.

Ein Franzose sagt beim Abendessen: „Man wird nicht besser, man wird echter.“ Ich verstehe nicht, ob er über sich spricht oder über mich.


Tag 20 – León: Großstadtklang in Pilgerohren

Ich habe León erreicht. Eine Stadt, die ruft, blinkt, riecht. Nach Konsum, Komfort und Geschwindigkeit. Ich war drei Wochen lang in Bewegung – nun will ich stehenbleiben. Und gleichzeitig weglaufen.

In einem Café bestelle ich Chocolate mit Churros und schreibe ich in mein Notizbuch: „Ich bin nicht auf der Suche nach Antworten. Ich will die Fragen neu stellen.“ Das ist pathetisch. Und doch ehrlich. Der Kellner fragt, ob ich Zucker will. Ich sage: nein. Ich mag den Geschmack der dickflüssigen Schokolade genau so und nicht anders.


Tag 23 – Ponferrada: Abschied von alten Geschichten

Der Rucksack ist leichter geworden. Nicht, weil ich Dinge verloren habe. Sondern weil ich sie zurückgelassen habe. Schuld, Zweifel, Pläne, Erwartungen. Sie liegen irgendwo zwischen dem dritten und zehnten Etappentag.

Ich habe Briefe verbrannt. Alte Texte aus der Jugend, die ich mit mir trug. Als ob die Vergangenheit ein Anker wäre. Sie war ein Gewicht.

Ein alter Mann auf der Bank sagt: „Der Weg nimmt nur das, was man loslassen will.“ Ich denke: Der Weg weiß es manchmal besser.


Tag 27 – O Cebreiro: Hoch oben, tief drin

Galicien. Nebel, Wind, eine andere Sprache. Die Landschaft verändert sich, und mit ihr mein Inneres. Ich weine heute. Ohne Grund. Oder mit zu vielen.

Ich bin müde von mir selbst. Von meinen Gedanken, meinen Deutungen, meinem Wunsch, allem einen Sinn zu geben. Vielleicht reicht es, einfach zu gehen.

Ein junger Spanier läuft barfuß. Ich frage ihn: „Warum?“ Er sagt: „Damit ich nicht vergesse, dass ich spüre.“ Ich ziehe meine Schuhe aus. Nur für ein paar Meter.


Tag 30 – Monte do Gozo: Fast am Ziel

Ich sehe Santiago. Weit hinten, unter einem grauen Himmel. Und ich fühle – nichts. Kein Triumph. Kein Frieden. Nur Müdigkeit.

Vielleicht ist das der Punkt: Es geht nicht um Ankommen. Es geht ums Gehen. Und um die Erkenntnis, dass der eigentliche Weg erst beginnt, wenn dieser hier endet.

Ich schreibe meinem Chef eine Nachricht: „Ich komme zurück. Aber nicht so, wie ich gegangen bin.“


Tag 31 – Santiago de Compostela: Ein Ende ohne Punkt

Ich stehe vor der Kathedrale. Menschen jubeln, weinen, fotografieren. Ich sitze am Rand. Schaue zu. Und denke: Der Weg hat mich nicht verändert. Aber er hat mich erinnert. An mich selbst.

Ich bin nicht heiliger, nicht weiser. Nur aufmerksamer. Vielleicht genügt das.

Morgen fliege ich zurück. In den Alltag, in den Kalender, in die Nachrichtenflut. Aber etwas bleibt. Ein neuer Takt. Ein anderes Verhältnis zur Zeit. Und der stille Satz, der mich begleitet: „Du musst nicht wissen, wohin du gehst. Nur, dass du gehst.“


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Ein realistisches Tagebuch vom Jakobsweg: ohne Kitsch, ohne Pathos. Eine menschliche Reise voller Zweifel, Einsichten und leiser Momente

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